Das Date mit der Signorina
Ich steige in Florenz Campo di Marte aus, muss noch länger warten, bis mich ein Regionalzug in die Innenstadt bringt. Ich gebe in der Stazione Santa Maria Novella mein Gepäck ab und ich weiß, dass ich „Sie“ in einer guten halben Stunde treffen werde. Ich habe nämlich ein Date.
Ich mache mich zu Fuß in Richtung Piazza della Signoria. Einer der zentralen Plätze in Florenz und einer der berühmtesten Italiens und somit der Welt. Wer hat hier der Statue des David noch nicht auf sein Gemächt geschaut, was übrigens erstaunlich wenig mächtig ist? Der restliche Körper der 5,17 Meter hohen bekanntesten Skulptur der Kunstgeschichte kann sich aber sehen lassen. Offenbar gab es 1504, als Michelangelo David vollendete, richtig gute Fitnessstudios in der toskanischen Metropole.
Es ist noch früh, die Bars und Geschäfte machen nach und nach langsam auf. Viel ist noch nicht los und so sehe ich sie schon von weitem. Da steht sie und wartet. Ich komme ihr näher und sie ist einfach wunderbar. David blinzelt aus einiger Entfernung in unsere Richtung, aber jetzt gehört sie ausschließlich mir. David kann ihr nicht näherkommen, ich schon. Niemand stört heute Morgen unsere Begegnung. Was für eine Figur, was für eine Ausstrahlung, was für eine Frau! Ich schenke ihr und ihrer unglaublichen Anmut meine volle Aufmerksamkeit.
Was man von ihr nicht behaupten kann. Sie schaut auf ihr Smartphone. Und da bleibt ihr Blick hängen. Sie schaut nicht auf, bemerkt mich überhaupt nicht. Sie starrt auf ihr Handy. Und sieht dabei so unglaublich gut aus.
Ich nehme es nicht persönlich. Es ist Juni und sie hat ihren Blick seit dem 14. März nicht mehr von ihrem Handy gelöst und sie wird es bis September auch nicht mehr tun. Denn sie ist eine monumentale vier Meter hohe Bronzestatue, die der Macht und den historischen Denkmälern den Rücken zukehrt und durch ihr Telefon scrollt. Der Londoner Künstler Thomas J. Price stellt hier temporär die Tradition in Frage und definiert die Kunst gerade an diesem geschichtsträchtigen Ort mit seiner zeitgenössischen Kunst neu. Ich stelle mir vor, wie Michelangelo, Leonardo da Vinci, die Familie der Medici und Dante mit einem Caffè vor ihr stehen und sich wundern, bevor Machiavelli mit ein paar Sandwichs vorbeikommt und Botticelli mault, dass er „den Scheiß“ nicht malen wird und Vespucci sich verabschiedet: „Ich mach mich dann mal los, Amerika wartet!“.
Ich reiße mich aus meinen durchaus interessanten Tagträumen los. Eigentlich wäre das doch mal eine Idee für einen Film, der historische Figuren gemeinsam auftreten lässt und die verschiedenen Epochen, in denen sie lebten einfach übereinanderlegt.
Ich kann meinen Blick nicht von diesem schwarzen Mädchen in Gold (der Künstler wollte den ausschließlich weißen männlichen Helden rund um den Platz ein modernes Gegengewicht geben) lassen. Was für eine Idee in einem Zentrum der historischen Geschichte einem Smartphone eine zentrale Rolle zuzuweisen. Ein Ort, der zum Nachdenken anregen sollte.
Was hat dieses Gerät eigentlich mit uns gemacht? Warum gehen wir auf Konzerte, schauen uns aber gerade die atemberaubendsten Momente durch das Display an, weil wir sie filmen und posten, um damit anzugeben, dass wir den Moment gerade erleben. Der Preis ist die Zerstörung des Augenblicks. Aber wir machen es alle und können uns dem Sog der Moderne nur schwer entziehen. Wir haben keine langweiligen Pausen mehr im Leben. Zuletzt habe ich einen Artikel gelesen, in der der Gehirnforscher Marc Wittmann darauf hinwies, wie positiv zum Beispiel „Warten“ erlebt werden könne. Denn beim Warten ohne den Einsatz von Smartphones werde im Kopf problemlösendes Denken angestoßen. Er beschreibt das In-sich-Hineindenken und das Feststellen, was gerade emotional in einem vorgeht. Das alles klappe aber nur, wenn man die negative Bewertung einer Warte-Situation sein lasse und nicht in das klassische Muster verfalle, sich zu ärgern und aufzuregen. Man muss die Chance des Wartens erkennen. Und da scheint es bei den Allermeisten schon zu scheitern.
Die Schöne von Florenz legt das Handy gar nicht aus der Hand, der Rest der Menschen immerhin ab und zu. Aber dieses zunächst für die Kommunikation gedachte Gerät ist ein Feind des persönlichen Miteinanders geworden. Es bringt uns Menschen auseinander und nicht zusammen. Und es zerstört potentiell tolle Momente und lässt sie uns erst gar nicht real erleben.
Ich gehe ein paar Meter, hole mir einen Cappuccino und ein Cornetto und setze mich auf der Piazza del Duomo auf eine Marmorbank. Vor mir breitet sich das Kino des Lebens in der beeindruckenden Atmosphäre der Cattedrale di Santa Maria del Fiore, des Campanile di Giotto und des Battistero di San Giovanni aus. Händler bauen ihre mobilen Stände auf, unzählige interessante Menschen flanieren oder eilen über den geschichtsträchtigen Boden. Die fantastischen Gebäude strahlen mich mit all ihren historischen Details an. Ich hole mein Samsung S25 aus der Hosentasche und checke erst einmal Social Media und bringe mich auf den neusten Stand und scrolle durch die Gaga-Reels auf TikTok.
Il dolce far niente
Man kann an einem Ort sein und doch in ganz verschiedenen Welten.
Ich bin gerade in der Bar Enrica am Hafen von Manarola. Es ist kurz nach Zehn am Morgen und ich sitze im Schatten, aber die andere Seite der Gasse und die gelbe Hauswand wird bereits von der Sonne in ein tolles Licht gesetzt. Vor mir steht eine große Flasche Aqua minerale. Ich mag es, wenn das Wasser in die eigenen eleganten Flaschen der Bar gefüllt wird. Unter dem interessanten Logo, welches offenbar die Landschaft der Cinque Terre symbolisieren soll, steht „Bar Enrica – Manarola – Cinque Terre“. Und schon wird aus einem Liter Wasser ein mediterraner Erfrischungsdrink. Der Cappuccino darf natürlich nicht fehlen. Er besticht durch einen wunderbaren Geschmack und man merkt, die Milch hat ein Profi aufgeschäumt. Aber irgendwie ist das Besondere dann doch das Ritual, sich aus dem kleinen mit verschiedenen Zuckerbeutelchen bestückten Kästchen eines zu nehmen, es zu schütteln und dann freudig den Zucker auf den Milchschaum zu verteilen.
Mein Blick auf das Meer und die in der Bucht ankernden Yachten wird unterbrochen, als Mario mir mein Focaccia bringt. Das ligurische Brot ist genau so belegt, wie ich es liebe: frische Tomaten, der weiche cremige Stracchino, ein milder Kuhmilchkäse, und natürlich Cotta, der gekochte Schinken, bei dem Mario nicht gespart hat. Und wie jeden Morgen habe ich das Gefühl, er hat das schönste und grünste Salatblatt herausgesucht, weil er weiß, dass ich – und jetzt hört die Romantik der Situation auf – mein Essen gerne fotografiere.
Aber der Anblick meines Frühstücks vor der atemberaubenden Kulisse der bunten Häuser in der engen Gasse und dem azurblauen Meer ist genau das, auf was uns auch in den Geschäften deutscher Großstädte inmitten stickiger Luft und Lärm auf den Lebensmotto-Karten hingewiesen wird: man soll sich auch an den kleinen Dingen des Alltags erfreuen. Und wenn wir das kleine Glück mal finden, wollen wir es konservieren und wir hören nicht auf daran zu glauben, dass uns der Blick auf ein Foto irgendwann einmal zumindest einen Bruchteil dieses Gefühls wiederbringen wird.
Zur gleichen Zeit, am gleichen Ort, schieben sich neben mir die Massen durch die Gassen. Zahllose Paare, wenige Einzelpersonen und vor allem Gruppen hetzen durch den Ort. Erstaunlich, die Menschen mit einem grünen Aufkleber des Reiseveranstalters „CityWonders“ nehmen kein Ende. Sie haben einen Empfänger um den Hals und lauschen über Kopfhörer den Erklärungen ihres Reiseleiters, der irgendwo vorne, nicht mehr sichtbar, das Tempo vorgibt. Die Gruppe gerät ins Stocken, es gibt einen Stau. Der ältere Mann neben mir schaut auf mein Focaccia, lächelt und schaut mich dann an. Wir blicken uns kurz freundlich in die Augen und er sagt „Hello“ und gibt der anonymen Masse ein sympathisches Gesicht. An einem warmen Morgen ist es augenblicklich noch ein Zehntelgrad wärmer geworden.
Die Reisegruppe mit den roten „CityWonders“-Aufklebern ist bereits auf dem Rückweg. Die beleibte und durchgeschwitzte Dame mit Sommerhut, deren Kleidung aus ihrer voluminösen Figur kein Geheimnis macht, signalisiert ihrem Tour-Guide, dass sie gerne in die Bar gehen würde. „Five minutes, five minutes!“, macht der Tour-Guide Druck und zeigt Richtung Bahnhof, auf dem Securitys in gelben Westen in der Rush Hour dafür sorgen müssen, dass sich ein kleiner Gang für die Aussteigenden bildet, damit es auf den völlig überfüllten Bahnsteigen nicht zum kompletten Chaos kommt.
Wir leben in einer freien Reisewelt und so kann sich jeder selbst entscheiden, wie er Tourist sein möchte. In der Rolle des entspannten Beobachters, der das italienische Lebensgefühl des La Dolce Vita mit der Steigerung des Le Dolce far niente zelebriert oder als Jemand, der möglichst viel sehen will und meist auch den Menschen zuhause zeigen möchte, wie viel Tolles er in seinem Leben erlebt. Denn man lebt nicht nur im Leben, sondern vor allem auch in Social Media. Und nicht Wenige scheinen der Überzeugung zu sein, dass sich dort der Wert des eigenen Ichs entwickelt. Spannende Erlebnisse, tadelloses Aussehen, Selbstoptimierung und bloß keine Langeweile treiben den Preis nach oben.
Vergessen, die Erkenntnis, dass aus Langeweile Kreativität entsteht. Nicht nachvollziehbar, warum man die Gedanken schweifen lassen sollte, um selbst auf kostenlose Erkenntnisse zu kommen, die teure Coachings oder Bücher einem auch versuchen näher zu bringen.
„Il dolce far niente“, die süße Kunst des Nichtstuns, des Müßiggangs. Ein Zustand des Entspannens und Wahrnehmens, bei dem man die Last des Alltags hinter sich lässt. Ohne Schuldgefühle unproduktiv sein. Aufmerksam das Glück im Hier und Jetzt finden. Momente, in denen wir uns frei fühlen und kein Ergebnis anstreben. Und uns ganz bewusst nicht vom Strom der schnelllebigen Konsumgesellschaft mitreißen lassen. Achtsamkeit, Wahrnehmung mit allen Sinnen, das „Dolce far niente“ ist eine wundervolle Medizin für uns.
In diesem Wissen nippe ich am letzten Rest meines Cappuccinos, beobachte die Menschen und bemerke nach einiger Zeit, dass sich an den allermeisten Menschen etwas äußerlich Hübsches finden lässt. Wenn man wohlwollend eingestellt ist. Wie interessant es doch ist, einfach hier zu sitzen und die sich ständig wechselnde Szenerie zu erleben. Ich winke Mario und er weiß, ich möchte noch einen Caffè. Vor vier Tagen hat er noch gefragt, ob ich einen Caffè americano oder einen Espresso wolle. Vor drei Tagen hat er sich vergewissert, ob ein Espresso gemeint ist. Seit gestern überspringen wir das. Ich bin ein kleines Stückchen höher gestiegen in der Hierarchie der Touristen. Erst recht, als er mich zu später Stunde vorbeischlendern sah, als er gerade die Bar zusperrte. Ich übernachte hier im Ort. Ich erlebe auch das faszinierende Manarola am frühen Morgen und am Abend, wenn dieses wunderschöne Fleckchen Erde zur Ruhe kommt. Ich bin kein Tagestourist. Ich bin die bessere Variante des Overturism.